"Das Covid-19-Virus ist gekommen, um zu bleiben"

Veröffentlicht am 24.05.2020

Die Corona-Pandemie führt den Menschen ihre Endlichkeit und die Verletzlichkeit einer hochkomplexen Gesellschaft und ihrer sozialen Systeme vor Augen, so Prof. Ulrich Körtner im KWV-Online-Seminar «Ethik in Zeiten von Corona».

„Die Krise infolge der Corona-Pandemie ist eine medizinische, politische, gesellschaftliche und ökonomische, aber auch eine ethische Herausforderung und Bewährungsprobe“, so Prof. Ulrich Körtner von der Universität Wien. Die Corona-Krise berühre in einem umfassenden Sinn ethische Aspekte, so der Theologe und Medizinethiker während des Online-Seminars „Ethik in Zeiten von Corona“ des Kaiserswerther Verbandes KWV am 20. Mai 2020.

In der Krise träten Stärken und Schwächen gesellschaftlicher Teilsysteme wie dem Gesundheits- und Pflegewesen hervor. Zugleich sei das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, auch innerhalb Europas ungleich verteilt. Es sei abhängig von Faktoren wie dem Einkommen, der beruflichen Stellung oder Wohnverhältnissen. Auch fiele der Genderaspekt ins Gewicht, so Körtner. Soziologen hätten eine Retraditionalisierung geschlechtsbezogener Rollenbilder in der Krise festgestellt. Die Corona-Krise werfe viele Gerechtigkeitsfragen auf und verschärfe die Lagen besonders verletzlicher und marginalisierter Bevölkerungsgruppen.

„Religion ist in der säkularen Gesellschaft nicht systemrelevant“, kommentierte Körtner die Tatsache, dass Gotteshäuser geschlossen wurden, während Baumärkte und Gartencenter teils geöffnet blieben. Trotzdem warnte der Ordinarius für Systematische Theologie vor der theologischen Überhöhung der Krise. Auch schaffe der Verlust von Systemrelevanz für Theologie und Kirche neue Freiräume und sei nicht bloß zu beklagen. Kirche und Diakonie hätten die Aufgabe, Gottes bedingungslose Hinwendung zu den Menschen und seiner Schöpfung zu bezeugen.

In der zweiten Phase der Pandemie müssten Freiheit und Verantwortung in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden, so Körtner. Freiheit schließe auch die Freiheit zum Sterben und zu selbstverantwortlich eingegangenen gesundheitlichen Risiken ein. Der lobenswerte Grundsatz des Schutzes gefährdeter Menschen dürfe zudem nicht zur Bevormundung von Patienten und Bewohnern führen.

In der aktuellen Phase der Forderungen nach massiven Lockerungen entstehe ein Konflikt zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl, prognostizierte Körtner. Dabei sei es in wohlverstandenem Eigeninteresse, sich auch solidarisch zu zeigen. Die Grenzen der eigenen Freiheit seien dort erreicht, wo andere Menschen in Gefahr gebracht würden. Um ein funktionierendes Gesundheitssystem aufrecht zu erhalten, seien Einschränkungen der individuellen Freiheit ethisch zulässig. Deren Verhältnismäßigkeit müsse aber überprüft werden. „Das Covid-19-Virus ist gekommen, um zu bleiben“, so Körtner. So lange es keine Wirksamen Medikamente und keinen Impfstoff gebe, dauere der Stresstest an. Die Pandemie führe den Menschen ihre Verletzlichkeit und Endlichkeit und die Verletzlichkeit einer hochkomplexen Gesellschaft und ihrer sozialen Systeme vor Augen.

Dies bedeute auch, im Zweifelsfall und bei Ressourcengrenzen medizinethisch entscheiden zu müssen. Dabei dürfe es keine Altersdiskriminierung geben, so Körtner: „Die mutmaßliche Lebenserwartung nach der Gesundung ist für die Aufnahme auf eine Intensivstation unerheblich.“ Das bedeute aber, dass im Katastrophenfall auch nicht an Covid-19 erkrankte Patienten von der Triage betroffen sein könnten. Ein besonderes Augenmerk sei dabei auf die Entwicklung in stationären Pflegeeinrichtungen zu richten.

Es müssten immer wieder schwere Entscheidungen getroffen werden, auch auf die Gefahr hin, das Falsche zu tun, so Körtner, der sich in kirchlich-diakonischen Einrichtungen eine ethische Kultur wünsche, „die vom Geist der Kraft, Liebe und Besonnenheit geprägt ist“. Dies sollte sich in einer ethischen Beratungskultur niederschlagen. Die Krankenhausseelsorge könne hier einen wichtigen Beitrag leisten. Ärzte und Pflegepersonen bräuchten nicht nur Ethikberatung, sondern auch Trost und Beistand.Besonders krass seien in der Phase des Lockdowns die Eigentümlichkeiten und Mängel heutiger Sterbekultur zutage getreten, betonte Körtner: „Dominiert der epidemiologische Blick das Handeln in der Corona-Krise, nimmt die Einsamkeit der Sterbenden auf Intensivstationen und in Pflegeeinrichtungen zu.“ Werde unsere Sterblichkeit verdrängt, müsse jeder Tote als Versagen empfunden werden. Dies führe zu moralischem Stress beim klinischen Personal.

Wie gut die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems funktioniere, werde in den kommenden wirtschaftlich harten Zeiten zu einer sehr großen Herausforderung. Es sei zu hoffen, dass der Diskurs über Weichenstellungen öffentlich und transparent geführt werde.

Der Kaiserswerther Verband (KWV) steht für die Wahrnehmung diakonischer Aufgaben in der Tradition der Mutterhausdiakonie Kaiserswerther Prägung. Er engagiert sich in besonderer Weise um die Stärkung und Entwicklung diakonischer Identität und die Verwirklichung von Gemeinschaft in Diakonie und schafft Begegnungsräume zum Austausch über die gemeinsamen Werte. Seit über 100 Jahren bildet der KWV ein Netzwerk der diakonischen Kompetenz und der christlichen Nächstenliebe. Er vertritt die Mitglieder auf unterschiedlichen politischen, kirchlichen und diakonischen Ebenen und unterstützt sie in ihrer Vernetzung. Der KWV verbindet 65 Diakonieunternehmen und Diakonische Gemeinschaften im KWV Deutschland.
Berlin, den 24. Mai 2020

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